Hallo Lilly,
Lilly hat geschrieben:insofern, dass der/die Heranwachsende wenigstens schon einigermaßen abschätzen kann, was auf ihn/sie zukommen wird, wenn man es entsprechend erklärt
das war damals gegeben - es gab nicht nur die Aufklärungsgespräche in der Klinik (die waren freundlich, ehrlich, nicht verschreckend, aber auch nicht beschönigend), sondern auch Gespräche mit Patienten in verschiedenen Genesungsstadien. Erst recht unter den damaligen OP-Bedingungen - noch keine primärstabilen Implantate, d.h. nach der OP erstmal Gips und dann für ca. ein halbes Jahr ein Korsett, das 24 Stunden am Tag zu tragen war und nicht "weil es gerade mal stört" abgenommen werden durfte, sowie weitere aus der Kombination nicht primärstabil + tiefe Versteifung bis L5 folgende für Monate geltende strenge Verhaltensregeln.
Die ausführliche Information, wissen was auf mich zukommt und wirkliches Begreifen der Ernsthaftigkeit der Sache - wenn es mal gemacht ist, kann man sich nicht mehr umentscheiden, aus einer pubertären "Zickigkeit"

heraus sich Regeln widersetzen geht nicht, war damals ganz wichtig. Ansonsten wäre die OP wohl auch nicht gemacht worden. Es gab damals
nicht das Aufklärungsgespräch mit den Eltern, und ein kurzes "nettes" Gespräch mit den jungen Patienten, sondern das komplette Aufklärungsgespräch mit dem jungen Patienten, sofern irgendwie möglich (Ausnahme natürlich: da waren auch schwerstmehrfachbehinderte Patienten bei denen davon auszugehen war, dass sie leider kaum auf die OP vorbereitet werden können - Kinder mit körperlicher und geistiger Behinderung und sehr hoher Verkrümmung, bei denen es schon in Richtung indirekt "lebensbedrohlich" ging).
Mir war die ausführliche Information auch aus dem Grund wichtig, abschätzen zu können, was ich zu erwarten habe - etwa zu sehen, dass bestimmte anfängliche Einschränkungen normal sind (zu sehen, dass andere die ersten Tage nach einer OP auch "nicht gut aussehen", komisch gehen und hilflos sind, nimmt die Angst, es habe etwas mit Komplikationen zu tun, wenn es einem genauso geht), wie man später eine Versteifung einigermaßen kompensiert und welche Fortschritte realistisch sind (und welche nicht, aber insbesondere auch, worauf ich mich jeweils schon mit einer guten Zuversicht freuen konnte, und so auch den Ärzten mehr vertrauen zu können dass hier nicht verharmlost wird).
Vergleiche im privaten Umfeld hat man bzgl. einer Skoliose-OP ja nicht, anders als bei alltagsüblicheren Behandlungsmethoden bei anderen Dingen, über die man sich eher untereinander austauschen kann. (Wenn ich da an die Eltern wie auch Kinder denke, die sich in dem Alter immer fleißig über Zahnspangen, Menstruation und Armbrüche ausgetauscht haben

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Ich habe mir selbst lange überlegt, ob ich es mir vorstellen kann, wie diese und jene Personen (die mir als vor einem halben, ganzen Jahr, zwei Jahren operiert vorgestellt wurden) zu leben, und ob ich es ertragen kann, x Wochen und Monate wie die Personen zu leben, die mir als vor wenigen Wochen bis Monaten operiert vorgestellt wurden. Und ob es mir die Sache wert ist, auf vieles zeitweise, auf manches dauerhaft zu verzichten, um bestimmte Verbesserungen zu gewinnen. Und ob ich damit klarkommen kann, dass es Komplikationen verschiedener Intensität und Dauer geben kann. Vom ersten Vorschlag einer OP bis zur Durchführung verging aus verschiedenen Gründen - sich wirklich dafür entscheiden, das ganze Drumherum für den Alltag planen - rund ein Jahr.
Ohne ausführliche Information hätte ich gar kein Vertrauen in die Ärzte gehabt.
Dass heutzutage die Verhaltensregeln und Einschränkungen direkt nach einer OP nicht mehr so streng sind (meiner Erfahrung nach sind die bleibenden Einschränkungen aber die selben), macht es wohl vielen Patienten wie auch Eltern leichter, sich für eine OP zu entscheiden. Das sehe ich auch zwiespältig: einerseits habe ich damals mitbekommen, dass Patienten mit ähnlicher Vorgeschichte wie bei mir die OP doch noch absagten. Eltern und Patienten, die v.a. vor den strengen Verhaltensregeln und sehr häufigen Nachkontrollen im ersten Jahr zurückschreckten. (Bei der damaligen OP-Technik war man mind. ein halbes Jahr auf umfangreiche Hilfe beim Ankleiden, Körperpflege etc. angewiesen, trug erst Gips und dann im Korsett, konnte im Haushalt nix, konnte ein halbes Jahr lang nicht sitzen - macht den Alltag sehr umständlich wenn man nicht einmal auf der Toilette sitzen kann und nicht in einem normalen Auto transportiert werden kann -, musste im zwei- bis vier-Wochen-Abstand per Liegendtransport in die Klinik zu Kontrollen, fehlte ein halbes (optimistisch) bis ganzes Jahr (üblich) in der Schule oder Arbeit. Das war normal, keine Folge von Komplikationen. Schreckte schon ab, gefühlsmäßig, und für manche schon organisationsmäßig nicht zu leisten.

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Andererseits habe ich das Gefühl, dass heutzutage eine OP oft von Patienten als schnelle Möglichkeit gesehen wird, insbesondere da die anfängliche Genesung bei modernen Implantaten und Operationstechniken wirklich erstaunlich ist. (Eine OP, nach der man oft am ersten oder zweiten Tag danach aufsteht, kurz darauf zum Essen sitzt, oft nach 7 bis 10 Tagen entlassen wird, sich zu Hause einigermaßen selbst um die Körperpflege kümmern kann, ohne Rollator oder Korsett nach Hause kommt, manchmal bereits nach einem Monat wieder die Schule besucht, man oft mit bisschen Hilfe den Haushalt schafft, oft nach zwei Monaten wieder für kurze Strecken ein Auto fährt, wirkt erstmal nicht so schwer, erst recht nicht für eine Wirbelsäulen-OP. Für die Patienten, die eine OP brauchen, freue ich mich selbstverständlich sehr über die Möglichkeiten, die heutige primärstabile Implantate bieten

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Viele Grüße
Raven