Da ich mich Orthopädiegeschichte schon lange interessiert stieß ich beim Stöbern im Internet in Wikipedia auf folgenden Artikel:
Und das Bild zum Artikel war folgendes:Wikipedia hat geschrieben:„Das Hessingkorsett ist ein orthopädisches Korsett, das im 19. Jahrhundert von Friedrich Hessing entwickelt wurde. Es ist auf einem Beckenkammbügel aufgebaut und besteht aus gepolsterten Stahlschienen, die durch Hals- und Armstützen ergänzt werden können. Das Korsett wurde zur Korrektur von Wirbelsäulendeformitäten (vgl. Kyphose, Skoliose) eingesetzt.
Der Literat Max Brod beschrieb seine Kyphoseerkrankung und die persönlichen Erfahrungen mit der Korsettbehandlung seiner Kindheit in einem autobiographischen Roman“.
Was mich an dem Artikel in Wikipedia besonders faszinierte war der Verweis auf Max Brod, der an einer starken Hyperkyphose litt, und der praktisch aus erster Hand berichtet, wie sich die Versorgung mit dem Hessingkorsett um ca. 1890 abspielte und wie seine Erfahrungen mit dem Korsett waren. Am Ende dieses Artikels hier zitiere ich in einem Auszug die betreffenden Passagen aus seiner Biographie.
Aber zuerst mal zur Geschichte und Technik des Hessingkorsetts:
Das Hessingkorsett ist praktisch der Vater aller unserer modernen orthopädischen Korsetts, seien es Kyphose-Korsetts, Skloiiose-Korsetts, oder andere Korsetts zur Behandlung von Wirbelsäulenkrankheiten. Zumindest was es den deutschsprachigen Raum angeht.
Hessing war einer der ersten, der erkannte, dass eine gute Beckeneinfassung das A und O eines guten und gut korrigierenden orthopädischen Korsetts darstellt. Daher und auf Grund seiner Erfolge bei der Behandlung von Wirbelsäulenerkrankungen diente das Hessingkorsett über Jahrzehnte praktisch als Standard-Korsett für die Behandlung der Skoliose, Hyperkyphose und weiterer Wirbelsäulenerkrankungen wie z.B. die Entzündungen an der Wirbelsäule (Spondolytis). Es wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt, wurde aber bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts mit leichten Anpassungen gebaut.
Da mich nach der Lektüre des Buches von Max Brod die Wirkungsweise des Korsetts interessierte habe ich etwas weitergeforscht und bin dabei auf folgendes Buch gestoßen:
A.Schanz: Handbuch der orthopädischen Technik, 1.Auflage 1908, Verlag Gustav Fischer, Jena
Das Buch wurde erstmals 1908 veröffentlich, 1923 erschien es in einer zweiten Auflage. Unter dem obenstehenden Link kann das Buch in der ersten Auflage bei Google Books für 3,64 Euro heruntergeladen werden.
Ich will aus diesem Buch ein paar Passagen zitieren, um zu zeigen, wie weit entwickelt das Korsett zu seiner Zeit schon war. Der Autor des Buches Dr. Alfred Schanz war selbst ein bekannter Arzt und Orthopäde, im Gegensatz zu Friedrich Hessing, der eigentlich Schreiner gelernt hatte und eine eigene Firma für Orgelbau gegründet hatte. Der Werdegang Hessings kann auf Wikipedia gut nachverfolgt werden. Schanz entwickelte selbst orthopädische Apperate, die er auch in seinem Buch beschrieb, oft auf Basis der orthopädischen Apparate von Hessing.
In der zweiten Auflage von 1923 (der hier verwendete Text und die Abbildungen sind praktisch unverändert aus der ersten Auflage von 1908 übernommen) findet man ab Seite 130 den folgenden Text:
Hier noch einige Bilder zum Original Hessingkorsett. Grundlage für jedes Korsett ist wie oben beschrieben zuerst einmal der Rahmen, von der Seite gesehen:Aus: A.Schanz, Handbuch der orthopädischen Technik, Gustav Fischer Verlag, Jena, 1923, Seite 130 ff
„Der … eingeschlagene Weg … hat zu noch besseren Resultaten geführt in dem Hessingschen Hüftbügelkorsett. Dieses Korsett wird in der modernen orthopädischen Technik ganz besonders geschätzt. Mit Recht, denn in der Tat bedeutet dieses Korsett den höchsten bisher erreichten Grad der Entwicklung der orthopädischen Technik in der Ausarbeitung des Drellstahlschienenkorsetts.
…
Auch das Hessingsche Korsett besteht aus einem Drellleibchen und aus Stahlschienen. Das Drellleibchen ist ähnlich gearbeitet wie ein Leibchen sonst in den orthopädischen Korsetten; nur an einer Stelle pflegt man in demselben eine Modifikation anzubringen. Man versieht den über der Hüfte liegenden Teil des Leibchens mit einem Ausschnitt, in dem man eine Schnürung hineingibt. Der Zweck dieser Modifikation ist der, den Sitz des Hüftbügels auf dem Darmbeinkamm beeinflussen zu können.
… Schienen haben wir zweierlei verschiedene: erstens wie in den anderen Korsetten an Rücken und Seiten des Korsetts Längsschienen; und zwar pflegen wir in die Rückenteile auf jeder eine Längsschiene, in die Seitenteile je zwei Längsschienen zu legen. Die letzteren beiden tragen an ihrem oberen Ende eine Armkrücke. Außer diesen Längsschienen haben wir im Hessingschen Korsett eine Schiene mit ganz wesentlich anderem Verlauf: den sogenannten Hüftbügel. Diese Schiene dient dazu, dem Korsett einen festen Stützpunkt auf dem Darmbein zu verschaffen und das Becken so zu fassen, daß auch eine rotierende Verschiebung des Korsetts auf dem Körper unmöglich gemacht wird. Dieser Hüftbügel ist die charakteristische Eigentümlichkeit des Hessingschen Korsetts.
…
Als Verschlußmittel des Hessingschen Korsetts benutzt man eine auf die Vorderseite gelegte Schnürung; in den Rückenteil kann man eine Stellschnürung legen, wenn man eine ausgiebigere Verstellbarkeit des Korsetts erlangen will. Man verliert aber dabei einen Teil der Fixationskraft des ganzen Apparates.
Als weniger wichtige Beigaben zu dem Korsett sind noch erwähnenswert der Bauchgurt, mit dem man die vorderen Enden der Hüftbügel miteinander verbindet. Mit Hilfe dieses Gurtes kann man die Bügel fest über das Becken einpressen, ohne dass man die ganze Schnürung des Korsetts entsprechend anziehen muss.“
Zusammen mit dem ‚Drellleibchen‘ ergibt sich dann das Gesamtbild:
Hessing baute - ebenso wie beim heute in den USA und den südamerikanischen Ländern noch gelegentlich verwendeten Milwaukee-Korsett - an seine Korsetts auch Kopfteile an, um gerade bei hochliegenden Kyphosen und Skoliosen eine bessere Korrektur zu erreichen. Schanz geht auch auf diese Teile ein und beschreibt sie ausführlich in seinem Buch. Max Brod hatte übrigens auch so ein Teil an Seinem Korsett für die Behandlung seiner Kyphose, wie er in seinem Buch beschreibt.
Ab Seite 225 der Ausgabe von 1923 findet man dazu:
Aus: A.Schanz, Handbuch der orthopädischen Technik, Gustav Fischer Verlag, Jena, 1923, Seite 215 ff
„Großen Anklang hat in neuerer Zeit die Kopfhalterkonstruktion von Hessing gefunden: dieselbe ist durch vielfache Modifikationen noch brauchbarer und anpassungsfähiger geworden.
Die typische ursprüngliche Form von Hessing zeigen Fig. 405 und 406. Der Kopfring, der genau der Kopfform angepasst ist, ist zwar schmal, aber er legt sich nicht mit der scharfen oberen Kante, sondern mit seiner Innenfläche gegen den Kopf. Der Verschluß des Ringes ist durch ein Scharnier und einen einfachen Federklappenmechanismus hergestellt (Fig 407). Der innere Halbring legt sich mit seinem freien Ende federnd gegen das des äußeren und greift mit zwei kurzen Stiften in entsprechende Löcher. Dadurch, daß nicht nur zwei Löcher, sondern einige mehr angebracht sind, ist eine gewisse Verstellbarkeit des Kopfringes gegeben. Von dem Kopfring laufen vier runde Stäbe herunter bis in die Taillenhöhe. Sie sind der Hals- und Rumpfmuskulatur angepasst. Oben sind sie mit dem Kopfring vernietet, doch so, daß die Verbindungsstellen eine gewisse Beweglichkeit besitzen. Unten tragen sie Knöpfe. Zwischen diesen und zwischen Knöpfen, welche von vorn und hinten an den Armstützen angebracht sind, werden Gummizüge ausgespannt. Durch die Spannung dieser Züge wird der Kopfhalter in die Höhe gepreßt und damit die Extension und durch sie die Fixation erreicht. Damit durch die Spannung der Gummibänder die Tragstangen nicht abgespreizt werden, ist unten um dieselben, und zwar zwischen Stange und Gummizug durch, ein Schnallriemen gelegt, der wieder durch eine Anzahl von Schlaufen mit dem Korsett verbunden ist.
Der Vorteil, den diese Konstruktion bietet, ist die elastische Extension. Außerdem sind diese Apparate bis zu hohem Grade durch die Kleidung zu verdecken.
Der Apparat erlaubt auch bei straffer Spannung der Gummizüge noch etwas Kopfbewegungen. Das ist je nachdem ein Vorteil oder ein Nachteil.“
Hier einige Bilder von Hessings Korsett mit Kopfstütze und speziell vom Halsring:
Im Folgenden einige Änderungen und Verbesserungen von Schanz. Diese Korsetts samt Kopfteilen von 1908 kommen in ihrer Grundidee schon recht gut an unsere heutigen Korsetts mit Halsteilen heran.
So, das war’s erstmal zu den technischen Details zum Korsett, gehen wir jetzt zu den Textpassagen aus dem Buch von Max Brod:
Auf Seite 108 des bei Kindler Taschenbücher 1960 erstmals erschienen Bandes mit dem Titel: „Max Brod – Streitbares Leben – Autobiographie“ findet man die folgenden Absätze:
Soweit die Ausführungen von Max Brod. Einige Details sind nicht ganz richtig wiedergegeben. Zumindest laut Wikipedia hat Hessing keine Schlosser-, sondern eine Schreinerlehre absolviert. Und laut Aussage der gleichen Quelle war er auch nicht besonders groß gewachsen, sondern er war mit einer Größe von 1,47 eher klein, was aber aus der Sicht eines Kindes natürlich anders erschienen sein kann.Aus: Max Brod, Streitbares Leben, Autobiographie, Kindler Taschenbücher, 1960, Seite 108f
„Es kam die Kyphose und bedrohte alles. Sie hätte, wenn man sie sich selbst überlassen hätte, mich zum unglücklichsten aller Menschen gemacht. Denn sobald ich zum Bewußtsein der Welt kam, dürstete ich nach Schönheit. Ich glaubte ein Recht auf sie zu haben. Habe auch die Frauen von ganzem unbändigem Herzen geliebt. – Und nun, ein Krüppel! Ewig von dieser kristallenen Quelle der Schönheit ausgeschlossen, ewig verbittert sein? Meine Mutter hatte es nicht nötig, so weit in die Zukunft vorauszublicken. Sie handelte aus ursprünglichem Gefühl. Ich durfte nicht anders, nicht schlechter sein als alle übrigen. Sie ließ es einfach nicht zu, sie legte sich mit ganzer Macht ins Zeug, sie machte das Unmögliche möglich. Der wackere Hausarzt erklärte das Übel für unheilbar. Immer entschiedener versank mein armer Hals zwischen den Schultern (auch dies ist auf Bildern, traurigen Bildern festgehalten). Was half es da, daß ich in allen übrigen Richtungen begabt, fast eine Art Wunderkind war. Gut, daß meine Mama sich nicht zufrieden gab. Sie entdeckte Hessing in Göggingen bei Augsburg, den genialen Schlosserlehrling, der es aus eigener Kraft, im Ansturm gegen die Schulwissenschaft zum Meisterorthopäden und Millionär gebracht hattte. (Nebenbei war er auch ein vorzüglicher Orgelbauer. Ich habe, anläßlich eines Vortrages in Augsburg, 1956, die von ihm begründete „Anstalt“ – so nannten wir sie – besucht und vieles wiedererkannt, obwohl ich als Patient nicht mehr als sechs Jahre gezählt hatte, als mich Mama hinbrachte.)
Es hatte eine einzige Frau in Prag gegeben, eine reiche Apothekersfrau, die von Hessing wußte und mit ihrem Söhnchen jährlich hinfuhr. Seltsamerweise führte sie den symbolischen Namen „Adam“. Wie die Mutter die Tatsache und die Adresse dieser Pionierin in Erfahrung gebracht hatte, weiß ich nicht. Genug, mein guter Geist in Gestalt der Frau Brod verschwor sich mit Frau Apotheker Adam, packte mich zusammen und reiste mit mir ins ferne Deutschland. Es wurde in unseren Kreisen damals als eine abenteuerliche Fahrt angesehen. Hoch die Initiative! – Mein Vater mußte Schulden machen. Eine mühselige Nebenarbeit übernehmen, um die für den Mittelstand unerschwingliche Kosten zu decken. Denn Hessing verlangte, daß das Kind für lange Zeit ihm allein und seinem Personal, seiner Diät und Pflege, seinem Internat anvertraut wurde. Nach einem Monat fuhr Mama nach Prag zurück. Ich blieb allein in der Fremde, mit den Märchen von Grimm, die nebst den vielen Spielsachen des Internats mein Trost waren. Die Märchen hatte mir die Mutter auf der Durchreise in Augsburg gekauft.
Mit seinen starken Bauernfäusten schmiedete der riesige Hessing an mein kümmerliche nacktes Körperchen Schienen eines Korsetts, auch einen sogenannten „Halsapparat“ oder „Kopfapparat“, der seinen eisernen, lederumwickelten Teller mir von den Hüften her entgegenstreckte, an denen er festgeschnallt wurde. Ich habe das Zeug viele Jahre getragen, noch im Gymnasium. Es hat mir wohl auch geholfen; meine unglückselige Figur wurde nicht ganz, aber doch wenigstens teilweise normalisiert. Namentlich der Hals wurde frei – was der Hausarzt als ein schieres Wunder ausposaunte. Nur brav das Mieder bei Tag nicht ablegen, auch den Kopfapparat nicht!
Man sollte nun glauben, daß die fortdauernde Qual mich unglücklich gemacht oder daß ich mich der auffallenden Erscheinung geschämt hätte, die ich mit dem sichtbaren Teil der Armatur, mit der Halsschiene darbot. Aber solange ich Kind blieb, war das Gegenteil der Fall- ich war noch stolz auf meinen Kopfapparat und ebensosehr auf den stoischen Gleichmut, mit dem ich die aufrecht gespannte Haltung meines Leibes, den immerwährenden Schmerz ertrug. Ich war stets gern bereit, jedem Beliebigen, vor allem den Kindermädchen im Stadtpark, die mich mitleidig nach dem Zweck des eisernen Halskragens fragten, mit wissenschaftlicher Gründlichkeit die ganze Konstruktion des seltsamen Instruments zu erklären und am eigenen Leib in aller Naivität vorzuzeigen, bis mich das eigene Kinderfräulein, vermutlich peinlich berührt von meiner anscheinenden Fühllosigkeit, mit sich fortzog und mich an der Verbreitung volkstümlicher Bildung hinderte.“
Auf jeden Fall geht aus den Ausführungen hervor, dass sich die Therapie mit dem Hessingkorsett schon damals durchaus gelohnt hat, und bemerkenswert ist, dass den niedergelassenen Ärzten damals wie heute die Möglichkeiten und Erfolge einer Korsetttherapie, die auf gute, von Korsettbauern mit langjähriger Erfahrung hergestellten Korsetten basiert, meist nicht bekannt sind.