Besser als prognostiziert
Verfasst: Do, 12.11.2015 - 22:29
Als Kind musste ich in den 60er Jahren regelmäßig bei der Behindertenfürsorge antreten, wo sich stets das gleiche abspielte: Der Arzt zählte alle Deformationen meiner Wirbelsäule auf, sagte, dass ich Morbus Scheuermann und eine Skoliose habe, als Erwachsener höchstens halbtags leichte Arbeiten durchführen könnte, spätestens mit 40 Frührentner sei und wenn ich nicht umgehend Krankengymnastik mache, bald wie der Glöckner von Notre-Dame aussehen würde. Auch von einem Korsett wurde immer wieder gesprochen. Doch meine alleinerziehende Mutter verweigerte ihr Einverständnis zu diesen Behandlungen. Zuhause saß ich zum Essen auf einem Holzhocker, sollte gerade sitzen. Zwei bis Drei Löffel ging dies mit viel Mühe, dann sackte ich wieder zusammen und es gab Schläge mit dem hölzernen Kochlöffel. Die Lehrer wollten mich auf die Sonderschule schicken, was abermals am Nein meiner Mutter scheiterte.
Irgendwann machten Jugendamt und Behindertenfürsorge so viel Druck, dass meine Mutter zumindest damit einverstanden war, dass ich wenigstens einmal wöchentlich zum „orthopädischem Schwimmen“ gehen durfte. Man bekam in der Eingangshalle eine Eintrittskarte mit dem Stempel „Behindertenfürsorge“. Das irritierte mich: war ich behindert? Doch ich traute mich nicht zu fragen. Ich gehörte zur letzten „Therapiegruppe“. Immer wenn wir die Schwimmhalle betraten, räumten die Therapeuten das Therapiematerial weg und verließen die Halle. Es blieb ein meist deutlich alkoholisierter Bademeister, der uns befahl eine halbe Stunde irgendwie im kalten Schwimmerbecken über Wasser zu bleiben. Aber die Erwachsenen waren nun alle beruhigt, denn ich sei ja jetzt irgendwie therapeutisch versorgt.
Das Thema Behinderung hat bei uns Familientradition: von den sieben Geschwistern meiner Mutter waren drei Behindert und überlebten die damaligen NS-Zeit nicht. Nicht nur bei uns ist so etwas noch heute ein familiäres Tabuthema – leider. Das erklärt vielleicht einiges, entschuldigt jedoch nicht alles.
Zum Glück wurde ich Erwachsen, nahm mein Leben selbst in die Hand und ging zum Orthopäden. Der blickte in Wechsel zu meinem Rücken und zum Röntgenbild und meinte: sie brauchen umgehend Krankengymnastik. Gesagt getan landete ich bei seiner angestellten Therapeutin. Die sah mich an und meinte: Der Chef spinnt, erst machen sie nichts und dann soll ich kurz vor Feierabend loslegen. Sie hätten mal vor 10 Jahren kommen sollen, jetzt ist das sinnlos. Und dann ging sie. Nach einer viertel Stunde erschien sie wieder und meinte kurz: sie sind ja immer noch da?! Im weiteren Verlauf lernte ich einige andere Ärzte und Therapeuten kennen.
Als junger Mensch hatte ich ein sehr schlechtes Verhältnis zu meinem eigenen Körper, den ich meist als Last empfand und dies im übertragenen und im wörtlichen Sinne. Oft fühlte ich mich nicht verstanden, weil eben keiner verstand, warum mir vieles so schwer fiel, ich so leicht erschöpfte; ich verstand es ja eigentlich selbst nicht und war so durch Vorwürfe leicht irrtierbar und verletzlich.
Mit Mitte 20 habe ich dann meine Frau kennen gelernt, mit der ich noch heute zusammen lebe und zwei Kinder habe.
Im Alter von ca. 20 - 40 hatte ich eher akute Probleme in der LWS und mit dem ISG. Gymnastische Übungen machte ich immer dann, wenn Schmerzen mich an meinen Rücken erinnerten, sonst achtete ich über den Tag darauf, meine Körperhaltung zu korrigieren. Als Familienvater war mir in diesen Jahren vieles wichtiger, als mein Rücken. Schließlich wechselte die Problemzone nach oben und machten sich mit einer heftigen Zervikobrachialgie wiederkehrend bemerkbar. Diagnosen: mehrsegmentale Spinalkanalstenosen HWK 3/4 bis 6/7, Neuroforamenstenose etc.
Inzwischen bin ich Mitte 50. Ich mache jeden Morgen 45 – 60 Minuten Gymnastik. Früher waren die Übungen für mich eher ein lästiges Pflichtprogramm, zu dem man sich irgendwie überwinden musste. Heute bewege ich mich gerne. Das bessere Körpergefühl im Verlauf der morgendlichen Gymnastik wirkt wie eine Belohnung und motiviert zum früheren Aufstehen. Motivation ist nun das hier und heute, das bessere Körpergefühl und nicht wie früher irgendein Fernziel.
Rückblickend glaube ich fest, dass für mich die Entwicklung einer eigenen, starken Persönlichkeit für die Bewältigung der krankheitsbedingten Probleme zumindest genauso wichtig war, wie körperbezogene Therapien.
Entgegen aller früheren Prognosen bin ich durchweg vollzeitig berufstätig und mit dem Glöckner von Notre-Dame besteht keine Ähnlichkeit. Heute zickt mein ISG herum, die LWS ist eine Diva und natürlich macht mir die HWS mit ihren heftigen Attacken manchmal Angst. Insgesamt geht es mir trotz allem viel besser, als in der Kindheit prognostiziert; das freut ich mich fast jeden Tag.
Irgendwann machten Jugendamt und Behindertenfürsorge so viel Druck, dass meine Mutter zumindest damit einverstanden war, dass ich wenigstens einmal wöchentlich zum „orthopädischem Schwimmen“ gehen durfte. Man bekam in der Eingangshalle eine Eintrittskarte mit dem Stempel „Behindertenfürsorge“. Das irritierte mich: war ich behindert? Doch ich traute mich nicht zu fragen. Ich gehörte zur letzten „Therapiegruppe“. Immer wenn wir die Schwimmhalle betraten, räumten die Therapeuten das Therapiematerial weg und verließen die Halle. Es blieb ein meist deutlich alkoholisierter Bademeister, der uns befahl eine halbe Stunde irgendwie im kalten Schwimmerbecken über Wasser zu bleiben. Aber die Erwachsenen waren nun alle beruhigt, denn ich sei ja jetzt irgendwie therapeutisch versorgt.
Das Thema Behinderung hat bei uns Familientradition: von den sieben Geschwistern meiner Mutter waren drei Behindert und überlebten die damaligen NS-Zeit nicht. Nicht nur bei uns ist so etwas noch heute ein familiäres Tabuthema – leider. Das erklärt vielleicht einiges, entschuldigt jedoch nicht alles.
Zum Glück wurde ich Erwachsen, nahm mein Leben selbst in die Hand und ging zum Orthopäden. Der blickte in Wechsel zu meinem Rücken und zum Röntgenbild und meinte: sie brauchen umgehend Krankengymnastik. Gesagt getan landete ich bei seiner angestellten Therapeutin. Die sah mich an und meinte: Der Chef spinnt, erst machen sie nichts und dann soll ich kurz vor Feierabend loslegen. Sie hätten mal vor 10 Jahren kommen sollen, jetzt ist das sinnlos. Und dann ging sie. Nach einer viertel Stunde erschien sie wieder und meinte kurz: sie sind ja immer noch da?! Im weiteren Verlauf lernte ich einige andere Ärzte und Therapeuten kennen.
Als junger Mensch hatte ich ein sehr schlechtes Verhältnis zu meinem eigenen Körper, den ich meist als Last empfand und dies im übertragenen und im wörtlichen Sinne. Oft fühlte ich mich nicht verstanden, weil eben keiner verstand, warum mir vieles so schwer fiel, ich so leicht erschöpfte; ich verstand es ja eigentlich selbst nicht und war so durch Vorwürfe leicht irrtierbar und verletzlich.
Mit Mitte 20 habe ich dann meine Frau kennen gelernt, mit der ich noch heute zusammen lebe und zwei Kinder habe.
Im Alter von ca. 20 - 40 hatte ich eher akute Probleme in der LWS und mit dem ISG. Gymnastische Übungen machte ich immer dann, wenn Schmerzen mich an meinen Rücken erinnerten, sonst achtete ich über den Tag darauf, meine Körperhaltung zu korrigieren. Als Familienvater war mir in diesen Jahren vieles wichtiger, als mein Rücken. Schließlich wechselte die Problemzone nach oben und machten sich mit einer heftigen Zervikobrachialgie wiederkehrend bemerkbar. Diagnosen: mehrsegmentale Spinalkanalstenosen HWK 3/4 bis 6/7, Neuroforamenstenose etc.
Inzwischen bin ich Mitte 50. Ich mache jeden Morgen 45 – 60 Minuten Gymnastik. Früher waren die Übungen für mich eher ein lästiges Pflichtprogramm, zu dem man sich irgendwie überwinden musste. Heute bewege ich mich gerne. Das bessere Körpergefühl im Verlauf der morgendlichen Gymnastik wirkt wie eine Belohnung und motiviert zum früheren Aufstehen. Motivation ist nun das hier und heute, das bessere Körpergefühl und nicht wie früher irgendein Fernziel.
Rückblickend glaube ich fest, dass für mich die Entwicklung einer eigenen, starken Persönlichkeit für die Bewältigung der krankheitsbedingten Probleme zumindest genauso wichtig war, wie körperbezogene Therapien.
Entgegen aller früheren Prognosen bin ich durchweg vollzeitig berufstätig und mit dem Glöckner von Notre-Dame besteht keine Ähnlichkeit. Heute zickt mein ISG herum, die LWS ist eine Diva und natürlich macht mir die HWS mit ihren heftigen Attacken manchmal Angst. Insgesamt geht es mir trotz allem viel besser, als in der Kindheit prognostiziert; das freut ich mich fast jeden Tag.